Bürgerquartier beim Anstreichermeister

Meine liebe Lydia!
Heute den letzten Tag hier und nun einen Sonntagsbrief. Gestern bin ich vor lauter Dienst nicht zum Schreiben gekommen. Vorgestern Abend in Corteville bekam ich mit der Abendpost Deinen Brief vom 21.3. und das Paketchen mit Kuchen und Chokolade. Gestern brachte die Post nichts von dort, hoffentlich bekomme ich heute Abend noch etwas. – Nun meine Erlebnisse des Tages der Reihe nach. Vorgestern früh marschierten wir, unser Bataillon unter Vorantritt der Regimentskapelle, um 6 Uhr von Corteville nach hier. Gegen 8 Uhr waren wir am Ziel. Habe Bürgerquartier und liege mit noch 3 Mann aus Hagen und Umgegend zu Hause zusammen. Konnte zum erstenmal wieder seit dem Fortgang von Metz im Bett schlafen. Eine ganz angenehme Abwechselung, meinst Du nicht auch? Habe auch gut geruht von gestern Abend 9 Uhr bis heute Morgen um 8 Uhr. Bei Ankunft im Quartier habe ich zunächst gefrühstückt, unsere Logiewirtin war so freundlich und machte uns einen guten Kaffee dazu. Überhaupt sind die Leute in jeder Weise zuvorkommend, selbstverständlich wird das auch von unserer Seite bewertet. Er ist Anstreichermeister, haben 6 Kinder, die drei kleinsten sind 1, 3 und 6 Jahr. Sehr proper im Hause, der Junge sitzt ziemlich auf dem Schoß bei mir, wenn ich hier bin, auch das kleine Mädchen ist zutraulich. Kleine Sachen, Chokolade, Apfelsinen, Nüsse bringen wir ihnen ab und zu mit, und das wirkt Wunder bei den Kindern. Der Junge will wohl mit nach Deutschland, aber das Mädchen nicht. Wie ich Ihnen Euer Bild zeigte, mußten sie sich wundern, daß ich schon so große Kinder hatte. Die Frau war entbötig, natürlich bezahle ich sie, meine ganze Wäsche zu reinigen, die mittlerweile schon fertig ist. Frische Wäsche tut mal gut. Große Wäsche: Unterhemd, Oberhemd, Unterhose, Halsbinde, Leibbinde, Knieschoner, 3 Taschentücher, allerhand was. Um 1145 war dann Apell, dann Mittagessen, vom Baden um 1450, welches dauerte bis um 4 Uhr, 430 Antreten zum Exerzieren bis 6 Uhr. Dann um 8 Uhr Postempfang. Kaffeetrinken fiel aus. Nachdem das Abendbrot eingenommen, bestehend aus Brot, Butter und ½ ȹ gehacktem Fleisch, begaben wir uns zur Ruhe. Heute morgen hatten die evangelischen, in einer kath Kirche, überhaupt ist hier alles kath., Gottesdienst um 945. Der Pastor legte der Predigt den Text vom kanaanäischen Weibe zu Grunde und gab der Hoffnung Ausdruck, daß unser Glaube überzeugt sein müsse wie der des kan[aanäischen] Weibes. Eingangs sangen wir: Ich bete an die Macht der Liebe, vor der Predigt: Harre meine Seele, und Ausgangs: den ersten und letzten Vers von: Ach bleib mit deiner Gnade. Der Feldprediger war übrigens reformiert, denn er sprach: Unser Vater u.s.w. Gegen 11 Uhr waren wir wieder im Quartier – die Kleinste liegt in der Wiege und schreit eben, klingt einem Familienvater wie Musik, bin übrigens der alleinige, die andern sind noch jünger und muß der eine mal wiegen, jetzt hat ihn die Mutter abgelöst. – Grade wollte ich mal frühstücken, [stürmt] schon einer rein und ruft: Flieger abgeschossen. Natürlich alles was Beine hatte, dahin, auch Zivilbevölkerung. Und richtig, eine Viertelstunde von unserm Quartier lag ein heruntergeschossener Englischmann. Kann gerade früh genug um zu sehen, wie die beiden engl. Offiziere in ein Auto geladen und mit Sack und Pack und nach Werwick in Gefangenschaft gebracht wurden. Natürlich erst wohl zum Gehör [= Verhör]. Im Nu war der Apparat von Offizieren und Mannschaften umringt, selbst der kommandierende General war im Auto herbeigeeilt. Der eine engl. Offizier hatte eine Beinwunde und der Benzinbehälter war defekt geworden. Die Folge eines Schrapnells. Die Flieger hatten noch Zeit genug gehabt im Gleitfluge runter zu gehen, jedoch konnten sie ihre eignen Linien nicht mehr erreichen. Es ist gut, daß wir diese mal wieder haben. Uebrigens war die Maschine mit einem Maschinengewehr ausgerüstet. Nach Rückkehr gegen 1 Uhr nahmen wir unser Mittagessen ein. Von der Küche gab es Griesmehlsuppe mit Rindfleisch. Unser Quartiergeber hatte es sich nehmen lassen, ohne daß wir es wußten, uns eine kräftige Suppe zu kochen. Haben davon dann 2 Teller gegessen. Dazu Komisbrot und das Fleisch von unserer Küche gegessen. Alle Achtung von den Leuten. Unser Essen haben wir denen dann gegeben. Nachher stand dann gleich zum Nachtisch eine Schale (Näpfchen), Tassen kennt man hier nicht, Kaffee mit Zucker auf dem Tisch. Wir wollen natürlich nichts umsonst haben, denn die Leute mußten es sich schließlich selbst abziehen, und haben schon Zucker selbst gekauft und hingegeben, ebenso gaben wir Ihnen 1 Fleischkonserve (2 ȹ Schwe[in]). Vielleicht machen wir es vor dem Ausrücken noch mit etwas Geld gut. Um 145 war Apell in Brotbeutel und Feldflasche. Das angesetzte exerzieren um 245 fiel glücklicherweise bei uns aus. Dann war ich auf einen Augenblick bei C. Speckenbach. Diese und auch die 9 Comp. hatten jedoch exerzieren und so bin ich wieder in das Quartier zurück und bin um 230 mit Briefe [sic] angefangen. Jetzt ist es 330. Um 515 ist Löhnungsapell und Einteilung der Comp. in den Schützengraben. Gegen 2 Uhr wird wohl morgen früh Abmarsch sein. Schon sind wieder andere Quartiernehmer da, für die Einquartierung morgen. Die Leute haben es hier auch nicht leicht. – Nun auf Deinen Brief zurück. Hoffentlich gelingt Egons Versetzung dann Ostern doch. Hennig spricht sich ja nie rein aus. Dann wäre H.Tr. [= Hugo Trimpop?] ja schon fort. Ich glaube auch, daß bis zu seiner Ausbildung der Krieg beendet ist. Bedenke ihn auch dann mal mit einem Paketchen. Besuche Du aber Klara doch mal verschiedentlich, wenn es Dir auch etwas gegen die Natur geht, sonst haben die nachher noch eine „dicke Backe“. Wie kommt es, daß Du immer wieder Kopfweh hast. Bist Du überarbeitet? Kommt Elly zu Dir? Sind von Trimpop außer Robert noch mehr weg? – Es wäre schlimm für die Rahmede, wollten Enders die Fabrik still setzen. Ich sprach mit Speckenbach auch darüber. Wir glauben nicht daran. Nun noch etwas von Werwick. Nach Angaben des Quartiergebers hat es ca. 50 000 Einwohner, liegt mit einem kleinen Teil ca 5000 Einwohnern auf französischem Gebiet, im übrigen in Belgien. Die Leute klagen, daß keine Kohlen zu haben sind. Petroleum giebt es schon lange nicht mehr. Die kein Gas haben, müssen sich mit Kerzenlicht zufrieden geben. Arbeitsgelegenheit ist auch wenig da. Der Sohn von unserm Quartierwirt arbeitet in der Stadt jetzt, sonst Anstreichergehülfe bei seinem Vater und verdient 2 Frank = 1,60 M den Tag. Er selbst ist ohne Beschäftigung. Auch vor dem Kriege waren die Löhne hier nicht so hoch, wie bei uns. So verdient der Anstreichermeister pro Stunde 7 Sou = 28 ₰. Tapeten aufkleben wird nur mit 2 Sou = 20 ₰ die Rolle bezahlt. Bei uns also überall fast die Hälfte alles höher. Nun muß ich schließen, es geht gleich zum Apell. Nach den 4 Tagen dann mehr. Wahrscheinlich kommen wir die 4 Ruhetage wieder hierhin. Sonst noch alles wohl. Dir wünsche ich gute Besserung. Grüße unsere lieben Kinder. Sei Du, allerliebste besonders herzlich gegrüßt und geküßt von
Deinem Ernst.


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